
Gefangen im Chemozyklus
Es ist Tag sechs nach der letzten Chemo und bis jetzt, ich klopfe auf Holz, ist die Erkältung von Carsten an mir vorbeigegangen. Mittlerweile haben wir getrennte Schlafzimmer, damit er mir nachts die Viren nicht direkt ins Gesicht pustet. Daumen drücken, dass es so bleibt. Morgen ist die wöchentliche Blutkontrolle bei meiner Hausärztin, mal sehen wie die Blutwerte sind.
Die letzten beiden Tage waren wieder ziemlich heftig – ich war schlapp, kraftlos, ausgepowert und habe die gesamte Zeit auf der Couch verbracht. Meine Muskeln haben geschmerzt, ich habe gefroren und selbst zum Lesen war ich zu schwach. Die Konzentration ging gegen null und alles um mich herum nervt einfach nur. Das Nervenkostüm ist an diesen Tagen sehr dünnhäutig. Ich würde mich in dieser Zeit am liebsten in Luft auflösen und niemandem begegnen. Draußen scheint endlich mal wieder die Sonne, aber ich kann mich nur schwer auf den Beinen halten, um einen Spaziergang zu machen. Tag vier und fünf muss ich einfach nur überstehen, danach wird es wieder besser. Dennoch habe ich mich am Nachmittag von Tag fünf aufraffen können und wir waren eine kleine Runde an der frischen Luft spazieren. Mein Körper muss wieder in Bewegung kommen, auch wenn die Schritte schwerfallen. Die Sonne tut dabei ihr Übriges.
Heute Nacht habe ich gut geschlafen und ich spüre schon beim Aufstehen, dass meine Energie im Körper langsam zurückkehrt. Ich starte mit einer Runde Frühsport, wie immer ein Mix aus Yoga und Pilates, und ich halte bis zum Ende durch – knapp dreißig Minuten Sport, das tut richtig gut. Das ist ein guter Start in den Tag und ich nutze die Energie, um noch ein paar Dinge an meinem Schreibtisch zu erledigen. Nicht viel, denn mein Körper signalisiert mir die Rückkehr in den Schongang. So kämpfe ich mich jeden Tag ein Stück mehr in den Alltag zurück.
Einmal mehr wird mir in diesem Chemozyklus bewusst, wie gefangen man darin ist. Es ist der dritte Zyklus und bisher waren alle gleich. Ich komme mir vor wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Auf der einen Seite ist es gut, dass sie sich ähneln, denn dann weiß ich ungefähr, wann ich wieder mit der alten Sabine rechnen kann. Auf der anderen Seite bin ich doch immer in Lauerstellung, ob sich noch etwas anderes einstellt, wie die Thrombose zum Beispiel. Dieses Gedankenkarussell macht mich wahnsinnig, denn mein Blick nach außen geht komplett verloren und das Leben rennt nur so an mir vorbei. Carsten meinte letztens, bevor ich in die Downphase abgetaucht bin, dass es unvorstellbar ist, dass in vierundzwanzig Stunden der Mensch Sabine ein anderer ist. Ausgesaugt, kraftlos und mies gelaunt. Es tut mir so leid für ihn, aber ändern kann ich es leider nicht.
Die Tage direkt nach der Chemo, Tag eins bis drei, bin ich kräftemäßig richtig gut drauf. Das Cortison lässt mich für 48 Stunden wie ein Punchingball durchs Haus springen. Wir können kleinere Unternehmungen planen, den normalen Einkauf tätigen und spazieren gehen. Ich versuche an diesen Tagen so viel wie möglich zu erledigen und wir verbringen viel gemeinsame Zeit mit Unterhaltungen, die dann erstmal nicht mehr möglich sind. Am Abend des Tags drei spüre ich, wie die Kräfte langsam meinen Körper verlassen. Hinzu kommt der Geschmacksverlust und damit verbunden die Appetitlosigkeit. Ich habe einen leicht metallischen Geschmack im Mund und alles, selbst pures Wasser, schmeckt einfach nur ecklig. Ich muss mich zum Trinken zwingen und verteile das Essen auf mehrere kleine Mahlzeiten. Ich schleiche durchs Haus, nichts geht mehr. Zwei Tage lang dauert dieser Zustand, bis meine Lebensgeister wieder aktiv werden. Danach kämpfe ich mich langsam zurück in den Alltag, freue mich auf leckeres Essen und Unternehmungen – bis zum nächsten Chemozyklus in einer Woche. Es ist der Letzte dieser Art und ich hoffe darauf, dass die neue Chemo mit einem anderen Wirkstoff anders ist.