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Mut zum Selbstbewusstsein

In letzter Zeit und vermehrt seit meiner Krankheit geben mir viele Menschen in meinem Umfeld das Feedback, dass ich eine starke und selbstbewusste Frau bin. Das war nicht immer so und ich glaube mein Leben und mein Lebensweg haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich blicke gern auf mein bisheriges Leben zurück, mit all seinen Facetten – positiv wie auch negativ. Manche hätte ich mir gern erspart, aber vielleicht brauchte es die, um genau dort hinzukommen, wo und was ich heute bin.

Aber es gibt auch Tage, an denen ich Mut brauche, um selbstbewusst in einer bestimmten Situation auftreten zu können. An denen es mich große Überwindung kostet, um stark zu sein. Mich plagen oft auch Selbstzweifel. Die Krankheit verlangt mir seit einigen Wochen große Dinge ab, aber sie lehrt mich ebenso viel. Ich wachse an und mit ihr. Teilweise staune ich über mich selbst und lerne noch neue Seiten an mir kennen. Mich bestärkt natürlich der Zuspruch der Öffentlichkeit in meinem Handeln, den ich bekomme, seit ich meine Diagnose und die Reise mit Paul öffentlich mache.

Ich poste und berichte schonungslos über alles, ich schreibe regelmäßig Tagebuch. Ich möchte zeigen, wie es ist, mit einer Krebsdiagnose konfrontiert zu werden und damit leben zu müssen. Ich möchte zeigen, welche Herausforderungen ab dem Tag des Wissens um seine Vergänglichkeit und Verletzlichkeit auf einen zukommen. Ich möchte aufklären und gleichzeitig Mutmacherin sein, dass eine solche Situation nicht ausweglos sein muss.

Gestern war genau solch eine Mutprobe, der ich mich stellen und selbstbewusst auftreten musste. Aber es tat so gut, als ich das gemeistert hatte. Es ist Samstagmittag, ich bin körperlich fit und wir entschließen uns zu einem kurzen Bummel in die Limburger Innenstadt aufzubrechen. Unser Ziel – ein Optiker. Ich möchte mir als Accessoire eine weitere Brille zulegen. Wir betreten den Laden, viele Menschen hatten wohl den gleichen Gedanken wie ich am Samstag nach Weihnachten, denn es war ziemlich voll. Mir ist das egal, wir haben Zeit und die Beraterin am Empfang sagte, dass es einen Moment dauern würde, denn alle Beratungsplätze sind derzeit belegt. Aber ich kann mich gern schon einmal umschauen und die Brillen probieren.

Gesagt, getan. Ich stehe also mit Winterjacke, Mütze, Schal und Maske vor den Brillen und beginne anzuprobieren. Da sagt Carsten plötzlich bei einem Modell, dass ich ihm präsentiere: „Ja, sieht gut aus, müsste man aber mal ohne Mütze sehen.“ Mein Herz beginnt zu rasen, mein Puls steigt und ich überlege, was ich nun tue. Er hat recht und die Sekunden meiner Handlungsstarre kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Dann fasse ich all meinen Mut zusammen und ziehe mir mitten in den vielen Menschen einfach die Mütze vom Kopf. Nun stehe ich also da – kahlköpfig, maskiert und probiere ganz selbstverständlich die Brillen an, wie jeder andere Mensch in diesem Laden auch. Warum auch nicht? Aber es hat mich einiges an Überwindung gekostet, doch es fühlt sich so gut und so befreit an.

Carsten erzählt mir später, dass er die Blicke der anderen ebenso gefühlt hat. Er war der Begleiter der Frau ohne Haare. Keiner in diesem Laden spricht uns darauf an, aber alle schauen. Auch die Beraterin nicht. Manchmal möchte ich mir ein Schild umhängen mit der Aufschrift: „Sprich mich gern an!“ Die Menschen haben so viele Berührungsängste, die uns Krebspatienten wiederum teilweise einsam machen.

Ich war so stolz auf mich selbst, dass ich mich dieser Situation gestellt habe. Und zwei neue Brillen habe ich nun auch. Sie haben keine Sehstärke, denn die brauche ich laut meinem Augenarzt nicht, außer zum Lesen. Ich nutze sie lediglich als Accessoire, um dem Gesicht mehr Ausdruck zu verleihen und die fehlenden Augenbrauen und Wimpern zu kaschieren. Der Ausflug zum Optiker ist ein weiteres Learning auf meiner Reise mit dem Brustkrebs.