Allgemein

Tempoverlust

Carsten und ich sind seit fast zwanzig Jahren zusammen. Wir sind ein eingespieltes Team, verstehen uns teilweise blind, haben oft den gleichen Gedanken und verbringen fast 24 Stunden am Tag miteinander. Wir sind beide pragmatisch bei dem, was wir tun, meist auf der Überholspur unterwegs, was unsere schnelle Denk- und Handlungsweise angeht. Unser Leben hat ein gewisses Tempo. Um das zu entschleunigen, sind wir vor drei Jahren aus der Stadt aufs Land gezogen, was uns beiden sehr guttut. Dennoch treibt uns beide ein gewisser Ehrgeiz an, jeder in seinem eigenen Bereich und teilweise gemeinsam in unserem Unternehmen.

Seit meiner Therapie hat sich unser Alltag komplett geändert – von einhundert auf fast null sozusagen. Eine große Herausforderung für uns beide. Carsten, das absolute Energiebündel, den man nur schwer bremsen kann und ich körperlich und teilweise geistig ausgeknockt auf der Couch. Würden wir bei Starlight Express mitspielen, dann wäre Carsten die schnelle und agile E-Lok. Ich hingegen bin eine alte schwerfällige Diesellok, die erst ewig vorher angeheizt werden muss, um langsam in Schwung zu kommen. Allerdings lässt mein Tempo dann auch noch zu wünschen übrig. Darüber machen wir uns beide unsere eigenen Gedanken, die wir aber auch offen miteinander teilen. Der Alltag, das Zusammenleben hat sich stark verändert. Unser gewohntes Gleichgewicht ist temporär aus den Fugen geraten. Selbst wenn ich will und mein Kopf JA sagt, dann bremst mich mein Körper direkt wieder aus und wirft mich zurück. Ich kann das Tempo nicht mehr halten und resigniere.

Die ersten beiden Tage nach der Chemo bin ich wie ein Flummi im Haus unterwegs – aufgeputscht und voller Energie. Ab dem dritten Tag lässt die Wirkung der Begleitmedikamente nach und mein Körper nimmt sich das, was er braucht – viel Ruhe und Schlaf. Zwei Tage lang bin ich gefangen in meiner Haut. Meine Laune ist irgendwo im Keller unterwegs, ich bin teilweise mies gelaunt und kann mich nur mit Mühe zu einem Spaziergang aufraffen. An den darauffolgenden Tagen bis zur nächsten Chemo steigt täglich mein Energielevel und ich nehme wieder am normalen Leben teil.

Und mein Mann – er macht das so toll. Er erträgt all das sehr geduldig. Unsere Themen haben sich verändert. Mich interessieren nur noch selten Dinge aus aller Welt. Ich habe keine Nerven mehr für Krieg und Hass und Terror. Laute Geräusche, zu viele Fragen lassen mich innerlich explodieren. Zu viel Energie im Raum macht mich teilweise wahnsinnig. Ich bin sehr dünnhäutig. Manchmal verliere ich die Kontrolle über mich selbst und es bricht aus mir verbal verletzend heraus. Im nächsten Moment entschuldige ich mich wieder dafür. Das Gummiband der Toleranz wird derzeit einem extremen Härttest unterzogen. Ich hoffe, wir können beide zusammen im nächsten Jahr darüber lachen. Aber ich bin teilweise eine echte Zumutung für mein Umfeld.

Und dennoch bin ich mir dessen bewusst, dass ich aus meiner Welt, die nur sehr wenige im Moment verstehen können, heraustreten muss. Ich muss am Alltag, am Leben teilnehmen. Ich kämpfe viele innere Kämpfe mit mir selbst – so kenne ich mich bisher noch nicht. Mein Mann steht zu mir, das sagt er mir sehr häufig und davon bin ich auch überzeugt. Unsere Beziehung, unsere Liebe ist stabil und wir halten zusammen. Aber wir beide stehen gerade auf einem Drahtseil.