
Organisationstalent gesucht
Auf meinem Schreibtisch finden sich nun mehr und mehr Formulare, Rezepte und Infomaterial, die mich täglich an meine Brustkrebserkrankung erinnern. Gefühlt kommen täglich neue Herausforderungen im Papierdschungel hinzu. Seit knapp zwei Wochen kenne ich inzwischen meinen Fahrplan für die Behandlung. Ich rotiere um mich selbst. Wer mich kennt, weiß, dass mich eigentlich nichts so schnell aus der Bahn wirft, aber an manchen Tagen fühle ich mich wie auf der Flucht. Es muss einfach sehr viel organisiert werden, es bleibt kaum Zeit für den normalen Alltag. Mein Organisationstalent ist gefragt und wird in kürzester ziemlich strapaziert.
Ich habe einen Antrag auf Schwerbehinderung gestellt, das steht Krebspatienten zu und soll diverse Vergünstigungen während der Krankheit bringen. Bei mir eher weniger aufgrund meiner Selbständigkeit. Zum Glück war das Online möglich. Mit der mir von der Klinik ausgehändigten Verordnung zur Krankenbeförderung habe ich die Möglichkeit, mit einem Taxi zur Chemotherapie zu fahren und Carsten kann in Ruhe zu Hause arbeiten. Die Kosten dafür trägt die Krankenkasse, muss das aber vorher genehmigen. Also telefonieren und online zur Genehmigung übermitteln.
Vor der Chemo brauche ich noch kurzfristig einen Herzultraschall bei einem Kardiologen. Ich kenne keinen und habe auch noch keinen. Das wird eine echte Herausforderung. Die Kardiologie im Krankenhaus ist chronisch überlastet und hat keine Kapazitäten für ambulante Patienten wie mich. Ich wühle mich durchs www, um möglichst in unserer Nähe fündig zu werden. Ich stelle mich auf eine lange Suche ein, kein Druck – noch 7 Tage bis zur ersten Chemo. In der ersten Kardiologenpraxis auf meiner Liste bekomme ich direkt eine Absage. Telefonat zwei und die nette Schwester gibt mir direkt für kommende Woche Dienstag einen Termin. Sie ahnt nicht, wie erleichtert ich bin und was das in mir auslöst. Mittlerweile ist es eine echte Challenge einen Termin bei einem Facharzt zu bekommen und noch dazu als Neupatient in der gesetzlichen Krankenkasse.
Die Krankenkasse hat die Übernahme der Taxifahrten zügig bestätigt und ich mache mich auf die Suche nach einem Taxiunternehmen. Bei uns auf dem Land auch nicht ganz so einfach. In den sozialen Medien hole ich mir Empfehlungen ein und beginne zu recherchieren und greife schließlich zum Telefon. Auch hier werde ich beim zweiten Versuch direkt fündig. Der nette Herr am Telefon kennt sich mit den Gepflogenheiten der direkten Abrechnung mit der Krankenkasse bestens aus und somit ist auch dieser Punkt auf meiner Liste erledigt. Die Ärztin aus der Strahlentherapie muss ich auch noch anrufen wegen eines Gesprächstermines. Ich habe der Aufnahme in eine Studie zur Untersuchung der Wirksamkeit der Bestrahlung vor oder nach der OP eingewilligt. Das Erstgespräch muss ebenfalls zeitnah stattfinden.
Während der Chemo muss wöchentlich mein Blut kontrolliert werden. In der onkologischen Ambulanz herrscht ebenfalls Personalmangel und es sind einfach sehr viele Patienten im Moment, wie mir Schwester Sabine erzählt. Da ich zu Beginn nur alle zwei Wochen Chemo bekomme, muss ich nach sieben Tagen zum Hausarzt oder zu meiner Frauenärztin zur Blutentnahme. Also schreibe ich meine Frauenärztin an, ob sie diese Blutentnahme im Rahmen der Chemo erledigen kann. Mittlerweile kommuniziere ich per Mail mit den Arztpraxen, da die Telefone ständig besetzt sind und ich somit das Stille-Post-Übermittlungsproblem umgehe, wenn ich mein Anliegen schriftlich verfasse. Prompt antwortet sie mir, dass hierfür ausschließlich der Hausarzt zuständig sei. OK – unsere Hausärztin ist eine Internistin und sie ist mitten in Frankfurt, einfache Fahrtstrecke von uns zu Hause sind 70 Kilometer. Für eine Blutentnahme, die nur wenige Minuten dauert, soll ich also 140 Kilometer fahren? In mir sträubt sich alles dagegen. Bisher wollten wir den Hausarzt nach unserem Wegzug aus Frankfurt nicht wechseln, aber jetzt ist es wahrscheinlich doch an der Zeit. Zumal wir eine Hausarztpraxis in unmittelbarer Nähe haben. Gesagt, getan – ich suche die Praxis persönlich auf, schildere der Sprechstundenschwester mein Problem und äußere meinen Wunsch zum Wechsel. Mit einem Stapel Papier zum Ausfüllen, einem Erstgesprächstermin bei der Ärztin und dem Termin für meine Blutentnahme kehre ich erleichtert nach Hause zurück. „Bringen sie alle Befunde mit, die sie haben“, sagt sie noch zu mir. Ich sehne die elektronische Patientenakte herbei. Genau aus diesem Grund ist ein Arztwechsel für mich nicht erstrebenswert. Man muss ständig alles erzählen und mit meinen 52 Jahren bringe ich auch schonmal ein paar Jahreszahlen meiner bisherigen Erkrankungen durcheinander. Ich habe mir schon einen handschriftlichen Zettel gemacht, auf dem alles Medizinische der letzten Jahre notiert ist und fein säuberlich in dem Ordner mit Arztbefunden abgelegt.
Nun stehe ich am Tag vor meiner ersten Chemo hier am Kopierer und stelle die Befunde für die neue Hausärztin zusammen, zumindest die, die mir vorliegen und die relevant sein könnten. Alle Formulare sind ausgefüllt und ich kann mich erst einmal auf die Chemo konzentrieren.
Nach diesem ganzen Orgawahnsinn frage ich mich, wie Menschen diese Flut bewältigen, die nicht mit dem Internet vertraut sind. Oder die allein sind? Oder Menschen, die schon mit der Diagnose komplett überfordert sind und somit am Rande des Wahnsinns. Als Patient wird man damit weitestgehend allein gelassen. Mein Irrglaube, dass ich doch in einem großen Krankenhaus mit allen erdenklichen Möglichkeiten gut aufgehoben bin, löst sich schnell in Luft auf. Von außen betrachtet ist es eine große Klinik und sie beherbergt Vieles unter einem Dach. Aber wenn man mal intern in die Strukturen hineinschaut, sind es lauter einzelne medizinische Bereiche, die auch verwaltungstechnisch komplett getrennt sind.