Neuer Alltag?
Tja, was ist eigentlich mein neuer Alltag? Nach Abschluss der Akuttherapie wird man aus diesem System „ausgespuckt“ und muss sich selbst im „neuen“ Leben zurechtfinden. Über Monate war man gewöhnt, regelmäßige Termine und engmaschige Kontrollen zu haben. Das habe ich nun auch noch, aber trotzdem fühlt es sich anders an. Ich kann und muss mein Leben wieder selbst gestalten, meinen Kalender befüllen. Das gelingt mir eigentlich ganz gut. Ich höre dabei sehr viel auf meinen Körper und entscheide, was ich will und was ich nicht will. Ich sortiere aus, ich schwebe gefühlt irgendwo im Orbit. Dinge und Ideen fliegen an mir vorbei, manche greife ich und stecke sie ein für später, manche lasse ich vorbeiziehen. Ich bin in einer Bubble, einer Orientierungsphase. Ich habe die Chance noch einmal vieles anders zu machen, sicher auch, weil ich mehr auf meinen Körper und meine Gesundheit achte. Ich habe gerade eine Krebserkrankung hinter mich gebracht. Das muss körperlich und seelisch erst einmal richtig verarbeitet werden.
Meine Familie hilft mir unbewusst sehr viel dabei. Sie geben mir Normalität mit der nötigen Rücksicht, ohne permanent an den Krebs zu erinnern. Dafür bin ich sehr dankbar. Meinen ersten Tablettenzyklus mit 21 Tagen, auf den eine Pause von sieben Tagen folgt, habe ich fast hinter mir und bisher keine Veränderungen festgestellt. Ich schlafe genauso wenig und schlecht, wie vorher und auch die Hitzewallungen haben nicht nachgelassen. Mein Fitnesslevel ist gut, aber mit unserer Personenwaage stehe ich momentan auf Kriegsfuß. Sie kennt nur eine Richtung – nach oben. Das während der Chemotherapie verlorene Gewicht habe ich längst schon wieder aufgeholt.
Die Frage nach dem Sinn meines Lebens begleitet mich des Öfteren in den letzten Tagen. Sinnstiftende und schöne Dinge sollen meinen Alltag füllen. Gemeinsame Unternehmungen mit meinem Mann, Zeit mit unseren Kindern und Enkelkindern, Zeit mit unseren Eltern. Zeit mit Freunden und Zeit für neue Bekanntschaften. Und dennoch möchte ich neue Wege gehen. Mein neues eigenes Projekt werde ich vorantreiben.
Und die Idee einer Qualifizierung zur ehrenamtlichen Hospizbegleiterin geistert auch schon lange in meinem Kopf herum. Aber ist gerade jetzt die richtige Zeit dafür? Ich war in der letzten Woche zu einem Gespräch bei einem Hospizverein in unserer Nähe. Ab Januar könnte ich eine Qualifizierung starten. Zwei neue „Projekte“ gleichzeitig? Schaffe ich das? Ich möchte überall einhundert Prozent geben, das ist mein Anspruch. Und ich möchte meine Tage sinnvoll füllen. Und dennoch hadere ich, ob genau jetzt der Zeitpunkt dafür ist.
Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu dem Entschluss mich erst einmal nur auf mein eigenes Projekt unSICHTBAR zu konzentrieren. Die letzten Tage ist auch hier sehr viel passiert und das Feedback und der Zuspruch von außen sehr groß. Und darauf werde ich mich jetzt konzentrieren. Ich suche Geldgeber und ehrenamtliche Helfer und natürlich Krebspatienten, die sich fotografieren lassen wollen. Nebenbei wird der Kleiderfundus aufgebaut mit ausgefallenen und extravaganten Kleidungsstücken. Und das wird neben meinem Bürojob in unserer Softwarefirma, die wir seit 15 Jahren betreiben, meinen Tag füllen.
Als Patient fühlt man diese ganzen Veränderungen sehr intensiv. Die Aussenwelt meint man sei wieder gesund und geheilt, aber tief drinnen gibt es noch einige offene Wunden. Diese Heilung braucht Zeit und mentale Stärke. So schnell wie man in den Alltag eines Krebspatienten eingesogen wurde, genauso schnell wird man wieder herauskatapultiert. Aber bleibt man nicht immer ein Krebspatient, der den Krebs besiegt hat? Ein Alkoholiker ist doch auch ein trockener Alkoholiker, wenn er die Therapie hinter sich gebracht hat. Die Narben an unserem Körper erinnern uns zumindest täglich daran, was man durchgemacht und auch geschafft hat. Im Nachhinein fühlt sich das alles irreal an. Der Körper und der Geist haben gelitten.
Mein Rückblick auf das alles gibt mir aber auch ganz viel Stärke, die mich antreibt. Und so knete ich weiterhin jeden Abend mit meinen Händen durch das Erbsenbad, um den Schnappfinger zu „kurieren“, stehe auf meinem neuen Balance-Board, was immer besser klappt, mache Nacken-Schulter-Übungen gegen meine einschlafenden Finger, dehne meine Ferse gegen den Fersensporn und trinke jeden Abend eine Tasse Schlaf- und Nerventee. Im Bett lese ich noch eine halbe Stunde, bevor ich mich schlafen lege, um besser ein- und durchschlafen zu können. Alles neue Routinen, die ich in meinen neuen Alltag einbaue.
