
Kleine Schritte – große Wirkung
Eine Woche nach meinem letzten Besuch beim Orthopäden darf ich den „Stiefel“ an meinem linken Bein gegen eine kleinere stützende Orthese eintauschen. Die ersten Schritte mache ich sehr zaghaft und vorsichtig, mit Unterstützung von Carsten. Kurzzeitig nehme ich sogar noch einmal eine Krücke zur Hilfe. Es fühlt sich ungewohnt an. Ich bin sehr unsicher und wackelig auf meinen Beinen. Nach über sieben Wochen stehe ich zum ersten Mal wieder mit beiden Füßen auf dem heimischen Boden. Zum ersten Mal kann ich wieder zwei Schuhe tragen, bisher war ich nur mit einem Schuh unterwegs. Aber es ist ein tolles Gefühl. In diesen Tagen sind es die kleinen Schritte, die mir meinen Alltag zurückgeben und mich weiterhin positiv nach vorn schauen lassen. Erfahrungen, die ich nicht gebraucht hätte, aber mir dennoch eine neue Perspektive auf das Leben geben. Viele Dinge sind einfach selbstverständlich. Im Stehen duschen zum Beispiel. Bisher hatte ich einen Stuhl in der Dusche, auf dem ich saß. Vieles ist komplizierter. Das Abtrocknen, das Aufstehen auf dem nassen Duschboden und das Aussteigen aus der Dusche. Klingt alles banal, ist es aber nicht, wenn man eine solche Einschränkung hat. Den Stuhl habe ich gestern, Freitag, aus der Dusche entfernt. Im Stehen duschen ist ein neues unsicheres Gefühl, aber ich muss mich all dem stellen, denn sonst gehe ich immer den bequemeren Weg.
Und es sind noch mehr Banalitäten, die einem erst bewusst werden, wenn sie nicht mehr gehen. Zum Einkaufen waren wir ebenfalls ohne Krücken unterwegs, ich konnte mich am Einkaufswagen festhalten. Nachts ohne AirCast aufstehen und zur Toilette gehen. Bisher habe ich mir das verkniffen, denn dann wurde Carsten ebenfalls wach. Im Haus kann ich endlich wieder die Treppe normal hoch und auch wieder herunterlaufen. OK, das Abrollen des Fußes klappt noch nicht so ganz, aber ich übe fleißig. Im Garten haben wir eine Treppe mit fünf Stufen und ohne Geländer, auch das musste ich üben und klappt nun wieder. Am Feiertag, Christi Himmelfahrt, habe ich den ersten Spaziergang mit Carsten unternommen. Nach neun Wochen endlich mal wieder eine kleine Runde drehen. Langsam und mit einem Zwischenstopp auf einer Bank, aber immerhin. Und heute morgen, es ist Samstag, war ich ganz mutig. Ich bin ohne Orthese durchs Haus gelaufen. Sehr vorsichtig, langsam und immer schauen, wo man hintritt.
Es waren so viele kleine Schritte in den letzten Tagen, die mich stolz machen. Stolz auf mich selbst. Ich trainiere jeden Tag meine Beinmuskulatur und die Beweglichkeit des Sprunggelenks. Das braucht noch einige Zeit, bis es alles wieder normal funktioniert. Aber ich kann meinen Haushalt endlich wieder allein bewältigen. Die Hilfe von Carsten benötige ich immer weniger. Ich fahre allein mit dem Auto zum Erdbeerstand und kann meine Wäsche im Garten auf der Wäschespinne aufhängen. Ich könnte noch viele Dinge aufzählen, die ich nun wieder selbst machen kann. Noch nie waren sie mir so bewusst, wie jetzt.
In den nächsten Tagen werde ich meine Akuttherapie im Kampf gegen den Brustkrebs fortsetzen – die Bestrahlungstherapie steht an. Man könnte meinen ich bin aus allem raus und der Krebs ist besiegt. In Teilen stimmt das auch, aber erst wenn ich aus der Akuttherapie entlassen werde, kann ich mit diesem Kapitel abschließen. Solange bin ich immer noch eine Krebspatientin, die gerade mitten in der Therapie steckt. Sicher ist die Chemo die intensivste und längste Etappe, aber eben auch erst die erste Etappe, die ich geschafft habe. Ich den letzten Tagen denke ich auch oft darüber nach, was ist, wenn der Krebs jetzt zwar besiegt ist, aber irgendwann zurückkommt. Auch beim hormonrezeptorpositiven Tumor nichts Ungewöhnliches. Das kann passieren, muss aber nicht und davon gehe ich erstmal aus.
Vor zwei Tagen erhielten wir die Nachricht, dass der Krebs bei Carstens leiblichen Vater leider zurück ist. Er hatte ihn besiegt und war vier Jahre krebsfrei. Nun stehen wieder viele Untersuchungen an und dann die Therapie – alles von vorn. Nachdenklich stimmt mich das schon ein wenig, gerade auch in Bezug auf meine eigene Erkrankung. Wir kämpfen und die Mediziner geben ihr Bestes und dennoch gelingt es winzigen Tumorzellen sich irgendwo zu verstecken, um später erneut eine Krebserkrankung hervorzubringen. Ich bin guter Dinge, denn im Gegensatz zu Carsten´s Vater habe ich eine Chemotherapie durchlaufen, die sich im gesamten Körper verteilt hat. Das hatte er nicht. Die Chemo war nur lokal. Der Vorteil dabei war, dass er nicht die üblichen Nebenwirkungen hatte.